SEHNERV Medienkunstpreis 2020


Mit großer Mehrheit hat die Jury das Werk «Liquid Panic» von Augustin Rebetez ausgewählt. In der Begründung der Jury wird hervorgehoben: «Das Werk trifft den „Sehnerv“ unserer Zeit. Es besticht mit seiner anarchischen Lust am völlig überzogen inszenierten Aktionismus und dessen professioneller Darbietung in atemberaubender Schnittfolge. «Liquid Panic» führt vor Augen, wie sehr im Jahr 2020 Party, Enthemmung, Freiheit und Angstlust auf der Strecke geblieben sind. Das Kunstwerk wird ausgezeichnet, weil es künstlerische Freiheit behauptet, die subversive Aneignung der Zuschaueremotionen betreibt und die Sehgewohnheiten unseres Blicks provoziert und befreit.»


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Augustin Rebetez (geb. 1986) lebt und arbeitet in Mervelier in der Nähe von Delémont im Schweizer Jura. Er ist spartenübergreifend tätig in den Bereichen Malerei, Skulptur, Fotografie, Installation, Video, Musik und Theater. Sein vielschichtiges Werk findet international grosse Resonanz, u.a. an der Sydney Biennale, Rencontres d'Arles, Musée de l'Elysée Lausanne, Kunstmuseum Bern, Daegu Photo Biennale, MBAL, Tinguely Museum Basel oder Shenzhen Independent Animation Biennale. Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, darunter den Vevey International Photography Prize, das Kiefer Hablitzel Stipendium, den Swiss Art Award oder den Preis Fondation Latour. In seiner pulsierenden Erkundung der totalen Kunst arbeitet er mit vielen Performern, Punks, Models, Musikern und Freunden zusammen, aber auch mit Institutionen wie dem Théâtre de Vidy in Lausanne, wo er drei verschiedene Stücke kreierte, oder mit dem international tätigen NGO Art for The World. 2018 veröffentlichte er mit dem Regisseur und Clown Martin Zimmermann eine Serie von zwölf Stop-Motion-Kurzfilmen mit dem Titel «Mr. Skeleton» und 2019 seinen ersten DIY-Spielfilm namens «La Grande Lune». Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und viele Clips und Albumcovers realisiert für Bands wie Louis Jucker, Emilie Zoé, The Young Gods oder seine eigenen Bands Gängstgäng und Chruch.

 

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Laudatio / Dr. Sebastian Baden, Kurator Gegenwartskunst, Kunsthalle Mannheim

 

Das Video „Liquid Panic“ von Augustin Rebetez wurde unter den Eingaben für den SEHNERV Videokunst-Preis von den Mitgliedern der Jury mit großer Mehrheit als Sieger bestimmt. Das Kunstwerk besticht mit seiner anarchischen Lust am völlig überzogen inszenierten Aktionismus und dessen professioneller Darbietung in atemberaubender Schnittfolge. In sechs Minuten wird eine Lawine an lustvollen, spielerischen, experimentellen und gefährlichen Performances losgetreten, die beim Zuschauen in Staunen versetzen. Vier Akteure starten vor laufender Kamera an einem verschneiten und trüben Wintertag in der Schweiz einen Prozess der energischen, gewalttätigen und chaotischen, aber in jedem Fall kreativen Zerstörung. Für die filmisch dokumentierte Materialschlacht werden alle Nutzgegenstände und Objekte des bürgerlichen Wohnhauses benutzt, verwandelt, zerdeppert oder verschüttet. Das Leitmotiv der Kettenreaktion sind allerhand Flüssigkeiten, von Schnee und Eis, Wasser und Bier über Tomatensauce bis hin zu undefinierbaren Chemikalien. Das Team zelebriert seinen Aggressionstrieb in Form einer eigendynamischen Serie von riskanten Experimenten mit dem Güterbestand eines Haushaltes. Sinn und Unsinn, Verbot oder Vernunft spielen keine Rolle. Die Kunst zeigt sich in völliger Enthemmtheit und befreit von gesellschaftlichen, akademischen, geschmacklichen Zwängen. Selbst das Putzen und Aufräumen mündet in totaler Verschmutzung.

Während zunächst die Freude an der teilnehmenden Beobachtung der irren Zerstörungsakte mitwächst, entwickelt sich mit dem Crescendo der zusammengeschnittenen Aktionen ein äquivalentes Unbehagen angesichts der eigenen Augenzeugenschaft bei so viel ostentativer Durchgeknalltheit. Die Distanz des Zuschauens gewährt trotz der rasanten Schnittfolge die Möglichkeit, legitimierende Erklärungen für das spektakuläre Durcheinander zu finden. Mit der rahmenden Kameraeinstellung und der Eingangsperspektive vom Vordersitz eines Autos heraus macht der Künstler klar, dass sein Werk vielseitige Anlehnungskontexte heranzieht: Von der unterlegten Musik als Referenz an das Kino und die Gewaltfantasien von Quentin Tarrantinos „Pulp Fiction“, über den berühmten Film „Lauf der Dinge“ von Fischli & Weiss bis hin zur legendären „Destruction in Art“ Bewegung der Neo-Avantgarde ist der Bezug hergestellt. Rebetez zitiert die Action-Stars der europäischen Nachkriegskunstgeschichte wie Gustav Metzger, Wolf Vostell, Jean Tinguely, Niki de Saint-Phalle, die Wiener Aktionisten und nicht zuletzt Kurt Kren, Peter Weibel und Valie Export mit ihren Expanded Cinema Performances.
Vor diesem neo-avantgardistischen Hintergrund heben sich Augustin Rebetez und seine Crew allerdings mit ihrer erfrischenden Situationskomik ab, die nur so vor halbstarkem Dilletantismus und Amateurhaftigkeit strotzt. Bewusst setzt der Künstler auf die Strategie des DIY und auf rasche, improvisierte Bildakte, deren Scheitern einkalkuliert ist. Bei dem ekelhaften Spaß möchte man gerne dabei sein und würde sich auch gerne gleich mit abduschen, so viele verschiedene Flüssigkeiten und Matschepampe fließen in dem Video durcheinander. Es lassen sich auch Spuren anderer zeitgenössischer Künstler*innen wie Kai Althoff, John Bock, Paul McCarthy, Ryan Trecartin & Lizzy Fitch in dem Video „Liquid Panic“ von Augustin Rebetez erkennen. Das Werk ist also praktisch verortbar im Kunstsystem und dem humoristisch akademischen Spiel mit Regelbruch und Abjection. So ist es zwar zynisch, wie Rebetez hier das Privileg der künstlerischen Zerstörung auf die Spitze treibt, doch sind die Performance, Inszenierung und Schnittfolge, Tempo und Tonspur extrem professionell und überzeugend umgesetzt. Das Kunstwerk trifft den „Sehnerv“ der Zeit und führt vor Augen, wie sehr im Jahr 2020 Party, Enthemmung, Freiheit und Angstlust auf der Strecke geblieben sind. Das Kunstwerk wird ausgezeichnet, weil es künstlerische Freiheit behauptet, die subversive Aneignung der Zuschaueremotionen betreibt und die Sehgewohnheiten unseres Blicks provoziert und befreit.

 

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Der Verein zur Förderung von Medienkunst SEHNERV, hat den Kunstpreis während dem Covid-Lockdown 2020 ertsmals ausgeschrieben. Insgesamt wurden 101 Werke von 115 Künstlerinnen, Künstlern und Künstlergruppen (66 Frauen und 49 Männer) zum Wettbewerb eingereicht. Eine neunköpfige Fachgruppe hat die Werke in einem zweistufigen Verfahren juriert. Im Fokus der Beurteilung standen die künstlerische Eigenständigkeit und Innovationskraft, die Aktualität und die gesellschaftliche Relevanz der eingereichten Werke sowie der unkonventionelle Umgang mit digitalen Medien.

 

Jury 2020:

Dr. Sebastian Baden (Kurator Gegenwartskunst, Kunsthalle Mannheim), Carola Ertle Ketterer (videokunst.ch), Marc-André Gasser (Medienkünstler), Ruth Gilgen (Präsidentin Verein Sehnerv), Günther Ketterer (videokunst.ch), Frantiček Klossner (Künstler), Géraldine Krebs, Andreas Lehmann, Barbara Zbinden.

 

Ausstellung:

In Kooperation mit VIDEOKUNST.CH

wird «Liquid Panic» von Augustin Rebetez

vom 8.10. bis 13.11.2021 im PROGR Bern gezeigt.

Vernissage: 7.10.2021, 18 Uhr

PROGR – Zentrum für Kulturproduktion


Wir danken für die freundliche Unterstützung durch die Hans-Eugen und Margrit Stucki-Liechti Stiftung


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Laudatio (traduction) / Dr. Sebastian Baden, Kurator Gegenwartskunst, Kunsthalle Mannheim

 

La vidéo "Liquid Panic" d'Augustin Rebetez a été choisie par une grande majorité des membres du jury comme lauréat du SEHNERV MEDIENKUNSTPREIS 2020. L'oeuvre captive par son désir anarchique d'actionnisme scénique complètement démesuré et par sa performance professionnelle dans une séquence de montage à couper le souffle. En six minutes, une avalanche de performances lascives, ludiques, expérimentales et dangereuses se déchaîne, laissant le spectateur bouche bée. Quatre acteurs entament un processus de destruction énergique, violent et chaotique, mais en tout cas créatif, devant une caméra en marche, par une journée d'hiver enneigée et lugubre en Suisse. Pour la bataille matérielle documentée en vidéo, tous les objets et objets utilitaires de la maison sont utilisés, transformés, brisés ou enterrés. Le leitmotiv de la réaction en chaîne est toutes sortes de liquides, de la neige et de la glace, de l'eau et de la bière à la sauce tomate et aux produits chimiques indéfinissables. L'équipe célèbre son instinct d'agressivité sous la forme d'une série d'expériences dynamiques et risquées avec les biens d'un ménage. Le bon sens et le non-sens, la prohibition ou la raison ne jouent aucun rôle. L'art se montre en totale désinhibition et s'affranchit des contraintes sociales, académiques, de goût. Même le nettoyage et le rangement entraînent une pollution totale.

Alors qu'au début, la joie des participants à l'observation des actes fous de destruction grandit, avec le crescendo des actions coupées en deux, un malaise équivalent se développe en raison du fait que l'on est témoin de tant de folie ostentatoire. Malgré le rythme rapide du montage, la distance qui sépare les spectateurs permet de trouver des explications légitimes au chaos spectaculaire. Avec le cadrage de la caméra et la perspective d'entrée depuis le siège avant d'une voiture, l'artiste montre clairement que son travail s'appuie sur des contextes de référence polyvalents : De la musique sous-jacente comme référence au cinéma et aux fantasmes violents de la "Pulp Fiction" de Quentin Tarrantino, au célèbre film "Lauf der Dinge" de Fischli & Weiss, en passant par le légendaire mouvement "Destruction in Art" de la néo-avant-garde, la référence est faite. Rebetez cite les stars de l'action de l'histoire de l'art européenne de l'après-guerre comme Gustav Metzger, Wolf Vostell, Jean Tinguely, Niki de Saint-Phalle, les Actionnistes de Vienne et, enfin et surtout, Kurt Kren, Peter Weibel et Valie Export avec leurs performances Expanded Cinema.

Mais dans ce contexte de néo-avant-garde, Augustin Rebetez et son équipe se distinguent par leur rafraîchissante comédie de situation, débordante de dilletantisme et d'amateurisme semi-fort. L'artiste s'appuie délibérément sur la stratégie du bricolage et sur des actes visuels rapides et improvisés dont l'échec est calculé. On voudrait faire partie de ce plaisir dégoûtant et on voudrait aussi prendre une douche en même temps, tant de liquides différents et de flaques de boue coulent dans la vidéo. Des traces d'autres artistes contemporains tels que Kai Althoff, John Bock, Paul McCarthy, Ryan Trecartin & Lizzy Fitch peuvent également être détectées dans la vidéo "Liquid Panic" d'Augustin Rebetez. L'oeuvre est ainsi pratiquement localisable dans le système de l'art et le jeu académique humoristique de la transgression des règles et de l'abjection. Alors que c'est cynique de voir comment Rebetez pousse le privilège de la destruction artistique à l'extrême ici, la performance, la mise en scène et le montage, le rythme et la bande sonore sont extrêmement professionnels et réalisés de manière convaincante. L'oeuvre d'art touche le "nerf visuel" de l'époque et démontre à quel point la fête, la désinhibition, la liberté et la peur sont tombées à l'eau en l'an 2020. L'oeuvre est récompensée parce qu'elle affirme la liberté artistique, s'engage dans l'appropriation subversive des émotions du spectateur, et provoque et libère les habitudes de notre regard.


Verein zur Förderung von Medienkunst SEHNERV.org